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 Aufsätze 1-16

 

1. Ĉu la litova lingvo influis Esperanton?

Es ist hinlänglich bekannt, dass die Wortwurzeln des Esperanto-Grund-wortschatzes vor allem dem Lateinischen, Französischen, Italienischen, Deutschen und Englischen entstammen, zu einem weit geringeren Teil dem Russischen und Polnischen, nur die Konjunktionn kaj ‛und’ dem Altgriechischen (καί) und wahrscheinlich edzo ‛Ehemann’ (ursprünglich als Suffix -edzin- mit der Bedeutung ‛Frau von’) dem Jiddischen (רביצן rebbedzin ‛Frau des Rabbiners’). Keine Beachtung hat bisher jedoch das Litauische als Quellsprache gefunden.

Dem Litauischen entstammen offenbar das Suffix -op- zur Buildung von Kollektivzahlen (dvejopa wie duopa), das Adverb tuj ‛sofort’ (lit. tuoj), der Auslaut -aŭ einiger ursprünglicher Adverbien (z.B. amkoraŭ gegenüber it. ancora und frz. encore, morgaŭ gegenüber dt.morgen, ĉirkaŭ gegenüber lat. circum, malgraŭ gegenüber frz. malgré, vgl. lit. pagaliau ‛schließlich’, paskiau ‛später’), die Möglichkeit, einen Richtungsakkusativ von Adverbien zu bilden (ĉielen ‛in den Himmel’ wie lit. žemyn ‛zur Erde’, antaŭen ‛vorwärts’ wie lit. pirmyn ‛dss.’), die Endung -u des Volitivs (die Infinitivendung -i wird durch -u ersetzt wie im Litauischen die Infinitivendung -ti durch die Konjunktivendung -tų) und der Richtungsakkusativ bei Ortsbezeichnungen (litauischer Illativ eiti miestan ‛in die Stadt gehen’). 


2. Esperanto – ĉu eŭropa lingvo?

Bekanntlich bezieht Esperanto seinen Wortschatz fast ausschließlich aus europäischen indogermanischen Sprachen, vor allem dem Lateinischen und den romanischen, daneben den germanischen Sprachen, nur zu einem geringen Teil slavischen und dem Griechischen. Ist Esperanto daher aber eine europäische Sprache? Es zeigt sich, dass Esperanto strukturell eine agglutinierende, nicht eine flektierende Sprache ist, wobei sie typologisch zwischen dem Türkischen und dem Japanischen steht, mit denen sie hier beispielhaft verglichen wird.


3. Der Lemberger Panegyrikos Προσφώνημα von 1591

Am 17. Januar 1591 kam der Erzbischof und Metropolit von Kiew, Galizien und ganz Ruthenien, Michail Rahoza, nach Lemberg und wurde dort in der Mariä-Entschlafungskirche vor versammeltem Volke durch die Zöglinge der Lemberger Bruderschaftsschule mit Versen in griechischer und kirchenslavischer Sprache begrüßt. Zwei Wochen später wurden die vorgetragenen Texte unter dem griechischen Titel Προσφώνημα und versehen mit einem die Umstände des Vortrages erläuternden längeren Zueignung, veröffentlicht.

Der Aufsatz gilt den zweisprachigen Teilen des Werkes, die ein Schlaglicht auf das Niveau des Griechischunterrichts an der Lemberger Bruderschaftsschule Ende des 16. Jahrhunderts werfen.

Am auffälligsten ist der griechisch ΠΡOΛΟΓΟΣ betitelte Teil. Im Slavischen liegt hier ein künstlich übersteigertes, schwer verständliches Kirchenslavisch vor, dem das Griechische an Schwierigkeit kaum nachsteht. Ein Vergleich erweist das Slavische als Original, deutlich daran abzulesen, dass der griechische Text neben Vulgarismen eine Reihe von Slavismen und vor allem typische Schülerfehler aufweist. Die griechische Übersetzung verarbeitet außer dem Bibeltext auch Hesiod, Homer und Pindar.

Während diesem Text offensichtlich ein slavisches Original zugrunde liegt, deutet Η ΑΡΧΗ ΤΟΥ ΠΡΟΤΟΥ ΧΟΡΟΥ auf ein griechisches Original. Auch im Versteil ist von einem griechischen Original auszugehen.

Unter Berücksichtigung der Lehrer, die um diese Zeit an der Lemberger Bruderschaftsschule tätig waren, lassen sich die Texte zuordnen: Verfasser des kirchenslavischen Prologs war offenbar Stefan Zyzanij Tustanovs’kyj (1586–1593 Lehrer in Lemberg), Autor der griechischen Verse wohl Arsenios, Bischof von Elasson (1586–1588 Lehrer in Lemberg), während als Übersetzer in die jeweils andere Sprache nur Kyrylo Trankvilion Stavrovec’kyj (1588–1592 Lehrer in Lemberg) in Frage kommt.

 

4. Richtigstellung zu Dzendzelivs’kyjs Fund

1981 stellte J. O. Dzendzelivs’kyj in dem Sammelband Літературна спадщина київської Руси і українська література (hrsg. von O. V. Myšanyč in Kiew) eine Versdichtung vor, die er dem „ukrainischen Sprachwissenschaftler, Dichter und Pädagogen“ des 18. Jahrhunderts, Arsenij Kocak zuschrieb. Tatsächlich stammen die Verse von Kyrylo Trankvilion Stavrovec’kyj. Ursache für die falsche Attribuierung war zweifellos die Einfügung des Namens Arsenij in ein Gebetsformular. Das Original von 1646 zeigt an dieser Stelle denn auch den Namen Kirilij. Der Text der Pochvala ist bei Kocak lediglich ein wenig von Polonismen wie unverständlich gewordenen Kirchenslavismen gereinigt, was aber auch schon für die 2. Auflage von Stavrovec’kyjs Werk 1699 in Mahiľoŭ galt.

Dzendzelivśkyj gelangt zu seiner Charakterisierung Arsenij Kocaks als „Sprachwissenschaftler, Dichter und Philologe“ wegen der Überlieferung der Pochvala in einem Manuale logicum ex Aristotele etc. concinatum, verschweigt aber, dass er griechisch-katholischer Priester und wahrscheinlich Basilianermönch war. Des Weiteren wird der von J. O. Dzendzelivs’kyj als weltlicher missverstandene Text der Похвала о премудрости троякои в вѣцѣ сем явленной philologisch und theologisch interpretiert.

 

5. Die zehnte englische Ordnung

Die areopagitische Angelologie ist im Westen wie im Osten kirchlich rezipiert worden, mit der Einführung des Cherubimshymnus in die Liturgie ist sie aber für die Orthodoxie in besonderem Maße prägend geworden. Desto mehr überrascht, dass Kyrylo Trankvilion Stavrovec’kyj in seinem Зерцало Богословіи (Poczajów 1618) von einer zehnten englischen Ordnung spricht, der Lucifer vorgestanden habe.

Diese Meinung findet sich auch in der ostslavischen apokryphen Literatur, so in den Палѣя Толкованія (Handschriftenzeugnisse seit der Mitte  des 14. Jahrhunderts), noch davor in der Рѣчь философа der Nestorchronik, aber auch in der griechischen Literatur, so in der Vita des Andreas Salos (nach 970). Die Zehnzahl der Engelchöre ist auch die klassische Version der jüdischen Angelologie.

Unmittelbare Quelle für die Lehre von zehn Engelordnungen ist aber eher die angelologische Interpretation von Luk. 15,8–10, wie sie sich in einem Bericht der Wundertaten des Erzstrategen Michael aus der Feder eines sonst unbekannten Pantoleon, des Diakons und Chartophylax der Großen Kirche findet. Pantoleon ist wahrscheinlich identisch mit Leon Diakonos, dem Historiker, der 986 Kaiser Basileios II. als Diakon nach Bulgarien begleitete und wohl nach 992 sein die Jahre 959 bis 976 umfassendes Geschichtswerk schrieb. Es scheint möglich, dass er die von ihm mit „нѣціи глаголють“ eingeführte Meinung von der Existenz einer ursprünglichen Zehnzahl der Engelordnungen in Bulgarien von Bogomilen gehört hat. Bei Letzteren findet sich nämlich nicht nur der Glaube an die Existenz einer einstigen zehnten Ordnung, sondern auch die bei Stavrovec’kyj wiederkehrende Überzeugung, der Mensch sei überhaupt erst erschaffen worden, um die Plätze der gefallenen Engel einzunehmen.

Diese ursprünglich häretische Meinung ist in der Folgezeit so weit orthodoxisiert worden, dass sie kaum mehr auffällig ist.

 

6. Kyj – ein altrussischer Städtegründer?

Die legendäre Gründung Kiews wird in der Nestorchronik drei Brüdern zugeschrieben und der Ortsname vom Personennamen Kyjь abgeleitet. Während die ältere Forschung von einer eponymischen Sage ausging, wird in jüngerer Zeit (vorsichtig bei B. A. Rybakov, phantasievoll ausgeschmückt bei Ju. Miroljubov) der Versuch unternommen, Kyj als historische Person zu betrachten.

Angesichts der weiten Verbreitung von Ortsnamen des Typs Kyjevъ im Ost- und Westslavischen mit einigen Belegen auch im westlichen Balkanslavischen würde man eine hohe Frequenz des Personennamens Kyjь annehmen. Tatsächlich gibt es nur vereinzelte Belege für Kyjь als Übernamen.

Versuche, Kyj als historische Gestalt zu betrachten, übersehen zumeist, dass die Gründung einer Stadt durch drei Brüder ein geläufiges Motiv ist, das innerhalb der Nestorchronik sogar noch ein weiteres Mal begegnet, Parallelen aber auch in der nordischen wie der armenischen Historiographie hat. A. Stender-Petersen hat 1934 detailliert nachgewiesen, dass sich in der Altrussischen Chronik mindestens sechs Sagen finden, die aus dem byzantinischen Orient durch die warägische Rus’ nach Skandinavien übermittelt worden sind.

Rybakovs Behauptung, die armenische Kovar-Legende sei ein Reflex der slavischen Kyj-Legende, weil die in der armenischen Legende genannten Namen von Orten und Personen keinen Zusammenhang mit Realia Armeniens hätten, kann widerlegt werden; auch ist die Kovar-Legende keineswegs ins 7. Jahrhundert zu datieren, sondern nur ins 10. oder 11. Jahrhundert, so dass sie für die Früherdatierung der Kyj-Legende nicht verwendet werden kann.

Weiter führen die frühen Belege des Ortsnamens Kiew in westlichen, nordischen und arabischen Quellen. Sie deuten (neben *kyje) auf eine Grundform *kyjanъ oder *kyjavъ, also Adjektive der Bedeutung ‘aus dem Stoff bestehend, den das Grundwort nennt’; Kyjevъ wäre danach eine sekundäre Umdeutung aus *Kyjavъ. Der Ortsname erweist sich als Appellativ zur Bezeichnung eines mit Palisadenwänden befestigten Stützpunktes, man vergleiche den böhmischen Ort Kyjov, der 1569 auf Deutsch als zum Gehagk, 1582 als zum Gehau bezeugt ist, typologisch ist auf Ortsnamen wie Tornow, Trnava u. ä. m. zu verweisen (*trъrnavъ gărdъ ‘mit einem Dornenhag bewehrte Burg’). Die nordische Entsprechung von *kyjavъ war garðr, daher Garðaríki neben Kœnugarðar (Plural!) für die Rus’.

Wenn Kiew Appellativ ist: wie lautete dann der Name der Stadt? Konstantinos Porphyrogennetos nennt sie Σαμβατάς. Dieser Name ist bisher nicht befriedigend erklärt, am ehesten knüpft er an den armenischen Personennamen Smbat, vielleicht den Namen des Eigentümers einer Faktorei in Kiew, an.

Zum Abschluss wird die Entstehung der eponymischen Sage und ihre Funktion für die Stützung des russischen Staatsbewusstseins durchleuchtet.

 

7. Страдалецът Сатанаил – главните мотиви в Емилиян-Станевия роман Антихрист

Emilijan Stanev (1907–1979) begann seine literarische Karriere 1927, aber erst 1950, als er die Abteilung Belletristik der Zeitschrift Литературен фронт übernahm, beschloss er, sich ganz der Literatur zu widmen, jetzt vor allem historischen Sujets. Sein Roman Антихрист von 1970 ist der zweite einer geplanten und unvollendeten Trilogie; er spielt in der Zeit des Patriarchen Evtimij am Vorabend der türkischen Eroberung Bulgariens. Obwohl E. Stanev offizielle Anerkennung nicht versagt blieb (posthum würdigte ihn P. Zarev 1989 als bulgarischen Klassiker), klagte er noch 1977, dass niemand zu Антихрист auch nur eine tiefer schürfende Rezension geschrieben habe. Danach freilich sind doch noch einige nennenswerte Arbeiten erschienen, so die von R. Joveva, Č. Dobrev, St. Karolev, E. Dimitrova und vor allem von E. Sugarev. Der vorliegende Aufsatz behandelt Aspekte, die bisher nicht genügend gewürdigt worden sind.

Stanev selbst nannte den Антихрист einen autobiographischen Roman und sagte in einem Interview „Този Теофил съм аз“. Der Roman behandelt (nach Dostojevskij) die Zerrissenheit der menschlichen Seele. Die mystische Vision des Taborlichtes, die V. S. Solov’jëv großartig beschrieben hat, ist für den Romanhelden Teofil (= Bogomilъ) traumatisch. Teofil durchlebt das von Häresien zerrissene Bulgarien des 14. Jahrhunderts, begegnet einem aus Geo Milevs Poem Септември entliehenen „roten Popen“, der nichts Anderes ist als ein bulgarischer Mephisto, geht durch Skeptizismus und Nihilismus. Am Ende seines Weges, als Häretiker zum Tode verurteilt und aller leiblichen Schönheit entblößt, weckt der Anblick der Leiden des bulgarischen Volkes sein Mitgefühl, und er gewinnt eine neue, innere Schönheit (ausdrücklich widerspricht Stanev der platonischen καλοκἀγαθία). Антихрист ist damit ein Entwicklungsroman: ausgehend vom individualistischen Ich durchläuft der Romanheld die Entwicklung zum gemeinschaftlichen Wir, von „Аз, Теофил монах ...“ zu „мене, поругания българин“. Teofil ergriff – so Stanev – das Volk, weil er Gottes und der jenseitigen Welt entsagt hatte. Er hatte keine andere Wahl  („Теофил се хваща о народа, защото се отказа от бога и отрече онзи свят. Той нямаше друг изход“), denn wie könnte der Mensch leben ohne Glauben („как ще живее човек без вяра“).

Dies allein aber, der Glaube des einstigen Nihilisten an das Volk, ist kein befriedigendes Ende. Stanev geht über diese traditionell messianischen Ideen hinaus. Teofil leidet nicht für sein Volk im Glauben an einen letztlich doch menschenliebenden Gott, sondern er leidet wie Satanael, um aufzuerstehen als Bulgare, nicht wie bei Trajanov dank göttlicher Gnade, sondern aus eigener Kraft als Nietzsche’scher Übermensch.

Zwar verfolgt Stanev den Weg seines Helden mit Sympathie, aber er muss doch bekennen, das er nicht zum Glück führe, zur Harmonie des Menschen mit sich selbst. Dazu bedarf es der Demut, des Schweigens des aufbegehrenden Verstandes, der – so Stanev – größten Versuchung für Bulgaren. Daher ist es folgerichtig, wenn Teofil am Ende den türkischen Herrenmenschen erschlägt und damit den Übermenschen in sich selbst, um dann im dritten Teil der Trilogie, von der wir nur die Erzählung Черния монах kennen, Buße zu tun. Denn in diesem dritten Teil sollte nach Stanevs Vorstellung Evtimij über Teofil triumphieren („Аз се надявам, че в последния ми книга ще надделее Евтимий“).

 

8. Doctrina Christiana

Unter dem Jahre 6494 berichtet die Altrussische Chronik von Missionsversuchen muslimischer Wolgabulgaren, lateinischer Christen aus Deutschland, jüdischer Chazaren und schließlich orthodoxer Griechen bei dem noch heidnischen russischen Fürsten Vladimir. Auf dessen Frage „Warum ist denn Gott auf die Erde herabgekommen und hat solches Leiden auf Sich genommen?“ gibt der namenlose Philosoph einen Abriss der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Gegenwart. Diese Rede des Philosophen (Рѣчь философа, im Weiteren RF) ist, wie D. S. Lichačëv 1947 gezeigt hat, ein ursprünglich selbständiger Text, der nur oberflächlich mit der Gestalt des Fürsten Vladimir verbunden worden ist.

Gattungsmäßig steht die RF in einer Tradition, die letztlich auf Eusebios und die Abgarlegende (Doctrina Addai) zurückführt. Während aber die syrisch überlieferte Doctrina Addai nur das Neue Testament behandelt, was gegenüber Heiden angemessen ist, muss gegenüber zu bekehrenden Juden der Schwerpunkt auf dem Alten Testament liegen. Die Betonung des Alten Testaments (über 75% der Gesamtlänge des Textes) und seine antijüdische Tendenz legen den Verdacht nahe, dass die RF sich ursprünglich an ein anderes Publikum wandte.

Schon A. A. Šachmatov hatte 1908 gesehen, dass die RF bulgarischer Provenienz ist. Durch sprachliche wie paläographische Argumente (Lexik, die laut V. Jagić zur ältesten Schicht des Altkirchenslavischen gehört, Zahlenfehler durch Umschreibung aus dem Glagolitischen) lässt sich die bulgarische These noch erhärten.

Aus inhaltlichen Gründen ergibt sich, dass die RF durch Kürzung aus einem längeren Text entstanden sein muss, der seinerseits eine Kompilation war. Diese kompilierte Quelle, die A. A. Šachmatov 1900 als Altbulgarische Enzyklopädie bezeichnete und sich als im symeonischen Bulgarien vor 920 entstanden dachte, habe außer historischen Quellen auch einen geistlich-moralischen Anhang gehabt, der mit dem Izbornik von 1073 übereinstimme. Später nennt Šachmatov diese Quelle unter dem Einfluss V. M. Istrins den Ausführlichen Chronographen (Хронографъ по великому изложенію) (diesen Titel hatte Istrin in einer Palejenhandschrift gefunden).

Der Ausführliche Chronograph ist aus russischen Chroniken und Palejen erst ab der Zeit König Roboams rekonstruierbar. Da die erste Redaktion der russisch überlieferten Weltchronik (Еллинскій лѣтописецъ) in der Benutzung von Quellen wie Epiphanios von Kypros mit der RF übereinstimmt, lässt sich die RF für die Rekonstruktion der Anfangsteile des Ausführlichen Chronographen, der die Grundlage für alle slavische Historiographie bildet, verwenden.

Ob der Ausführliche Chronograph von einem Slaven aus griechischen Quellen kompiliert worden ist oder ob er eine fertige griechische Kompilation ins Slavische übersetzt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Für die Existenz einer griechischen Kompilation sind jedoch Spuren von ihr in orientalischen Sprachen zu verwerten, so im äthiopisch überlieferten አክሲማሮስ Aksimāros (über das Arabische aus dem Syrischen, armenisch auszugsweise bei Mxit‘ar von Ayriwank‘). Auch der äthiopische Text Anfang des Glaubens (ጥንተ:  ሃይማኖት: Ṭenta hāymānot), für den A. Haffner eine griechische Vorlage vermutet und der bei der Interpretation der slavischen RF hilft, könnte auf eine griechische Kompilation deuten.

 

9. Orbis Apostolorum

Jiří Plachý-Ferus (1586–1655) war ein fruchtbarer Autor, an die 70 Schriften überwiegend in tschechischer, aber auch in lateinischer und angeblich auch in deutscher Sprache sind von ihm bekannt. Die Mappa Katolická, neb Obrácení Národův všeho světa von 1630 ist ein Frühwerk des tschechischen Barocks; der Literaturkritik gilt es einhellig als Plachýs Hauptwerk. Gattungsmäßig handelt es sich um eine Art „Kirchengeschichte als Missionsgeschichte“, wie sie von den Jesuiten im Zeichen von Gegenreformation und überseeischer Mission verbreitet wurde. Den Anfang machte hier Arnoldus Mermannus mit seinem Theatrum conversionis gentium totius orbis, sive chronologia de vocatione omnium populum (Antwerpen 1572).

Zur Veranschaulichung werden die Kapitel über Böhmen, die slavischen Nachbarn und die Mission in Afrika eingehender betrachtet. Es zeigt sich, dass Plachý nicht eigentlich eine Kirchengeschichte liefern wollte, sondern eine Abfolge von Lebensläufen mehr oder weniger christlichen Tugenden genügender weltlicher Herrscher. Historische Daten fehlen völlig, streckenweise ist die Darstellung reduziert auf die Aufzählung von Heiligen. Da Jiří Plachý zugleich Ratgeber Graf Vilém Slavatas bei dessen historischem Werk war, ist der Mangel an historischen Fakten nicht die Folge von Unvermögen, sondern die anders gelagerter Interessen.

Das wird auch deutlich an den verwendeten Quellen, die kaum historiographische, sondern überwiegend hagiographische sind, so die Vies de saints des Karthäusers von Juliers, Zacharie Lipelloo, oder De probatis sanctorum historiis (Köln 1570–1575) des Karthäusers Laurentius Surius, daneben das Martyrologium des Ado von Vienne.

In der Darstellung kommt Wundern die größte Bedeutung zu, und zwar weniger wundersamen Heilungen als offensichtlichen Durchbrechungen der Naturgesetze (Regenwunder, Wandeln auf dem Meere, auseinandertretende Flüsse, nicht brennende Bücher, Transport über große Entfernungen durch Engel). Anliegen Plachýs ist es offensichtlich, die durch die humanistische Rationalität kühl gewordene Welt wieder zu verzaubern und die abgefallenen Protestanten zurückzugewinnen.

 

10. Alexander bei den Bogomilen

Der Alexanderroman des Ps.-Kallisthenes hat die Slaven zweimal erreicht: als so genannter „bulgarischer“ nach der Rezension β des Ps.-Kallisthenes, nachweisbar als Teil des russischen Chronographen zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert, und als so genannter „serbischer“, bezeugt seit 1389. Die eigentliche Erforschung des „serbischen“ Alexanderromans begann 1886 mit der umfangreichen Monographie A. N. Veselovskijs.

Erste Aufgabe der Forschung war die Bestimmung des Verhältnisses des „serbischen“ zum mittelgriechischen Alexanderroman. Die endgültige Lösung fand hier 1960 L. Hadrovics, der den mittelgriechischen Text als Übersetzung aus dem Slavischen erwies. Schon Veselovskij war auf westliche, lateinische Elemente aufmerksam geworden und hatte sie als (erst ab 1203 glaubhafte) Einarbeitungen in einen griechischen Grundtext verstanden. Dagegen hat Hadrovics gezeigt, dass die Vorlage des „serbischen“ Alexanderromans in lateinischsprachigem Milieu als Kompilation aus einer lateinischen und einer griechischen (J. Trumpfs Rezension ε) Quelle entstanden sein muss. Er dachte dabei an den Hof des Anjou-Königs Ludwigs des Großen um 1350, als Kompilator erwog er den Hofkaplan János Apród, Diakon von Kokelburg (Küküllő) in Siebenbürgen. Lassen sich ungarische Realia im „serbischen“ Alexanderroman noch mit dem Lateinischen verbinden, so zeigen Fehlübersetzungen und stehengebliebene ungarische Akkusativzeichen, dass es sich bei der Vorlage des slavischen Textes um eine ungarische Kompilation gehandelt haben muss. Als Übersetzer aus dem Ungarischen ins Slavische erwägt Hadrovics den Hofritter Novak aus Krbava, den er mit Novak Petrović im Kolophon eines kroatischen Missale von 1368 identifiziert.

Außer auf die griechische (Rezension ε) und die lateinische (Rezension J3 der Historia de preliis) Quelle ist D. Christians bei ihrer Edition der Sofioter illustrierten Handschrift auf einen Rest gestoßen, der einer dritten Quelle entstammen müsste. Diese dritte Quelle tritt beispielsweise in der Euanthes-Szene in Erscheinung. Euanthes ersetzt Dandamios früherer Rezensionen, zugleich gilt er als Herr der Insel der Seligen, in welcher Funktion die Antike Kronos oder Rhadamanthys kannte. Euanthes ist ein Beiname des Dionysos, und schon Arrian ließ Alexander den Geburtsort Dionysos’, Nysa, in Indien finden. Der Name des Euanthes hat aber nicht nur mit dem Dionysoskult etwas zu tun, Eirenaios erwähnt ihn in seiner Auseinandersetzung mit Gnostikern; die Häretische Gruppe aber, die Parallele zur Orphik aufwies, waren die Sethianer. Sethianische Spuren finden sich nun durchaus im „serbischen“ Alexanderroman. Nicht nur gilt Euanthes nach Nachkomme Seths, Adam und Eva werden auch als Riesen geschildert, was auf sethianische Gebärmutter- und Nabelspekulation zurückgeht (Grab der Urmutter Eva bei Ǧidda mit einer Kultstätte über dem Nabel, vor seiner Schleifung 1928 zuletzt 1917 durch É. F. Gautier beschrieben, Adamspik mit riesenhaftem Fußabdruck auf Ceylon).

Die in griechischen wie lateinischen Rezensionen des Alexanderromans fehlenden Seth-Traditionen können, da schon ε – lange nach Erlöschen dieser Häresie – ins 7. Jahrhundert zu datieren ist, nicht unmittelbar aus den Quellen in den Roman eingeflossen sein. Die häretische Gruppe, die am ehesten als Träger von Seth-Traditionen in Frage kommt, sind die Bogomilen. Eine Verbindung lässt sich über die syrische Schatzhöh-le (ܓܙܐ ܡܥܪܬ Mcārat gazzæ) und die armenisch überlieferten apokryphen gnostischen Adamschriften herstellen. Der Weg gnostischen Gedankengutes aus Ägypten nach Armenien hat Epiphanios überliefert, von dort kamen bedrängte Häretiker unter dem Katholikat des Yovhannēs von Ojun nach Bulgarien, Paulikianer durch byzantinische Umsiedlungsmaßnahmen nach Thrakien. Die Verbindung, die L. Hadrovics zwischen Novak Petrović und dem „serbischen“ Alexanderroman hergestellt hat, lässt sich nun auch dadurch stützen, dass Graf Novak sich im Kolophon selbst als kristjanin bekennt, ein Wort, mit dem im 15. Jahrhundert Priester der bosnischen Häresie bezeichnet wurden. Schon 1203 mussten die bosnischen Patarener unter Ban Kulin auf dem Bilino Polje abschwören und geloben, sich hinfort nicht mehr Christen, sondern Brüder zu nennen.

Nun war die bogomilische Häresie gerade bei den Serben nicht verbreitet. Es lässt sich aber zeigen, dass срьбьскыи єзыкь auch die Sprache Bosniens bezeichnen konnte, das Adjektiv срьбьскыи bedeutet ‘volkssprachlich’ und ist nicht unbedingt einem bestimmten Volk zuzuordnen. Ch. A. Van den Berk hatte bereits aus lexikalischen Gründen den „serbischen“ Alexanderroman in katholisches Gebiet, vielleicht nach Dubrovnik, verlegen wollen. Nachdem Hadrovics durch im Alexanderroman reflektierte Ereignisse der ungarischen Geschichte zur Datierung der ungarischen Kompilation um 1350 gelangt war, kann man versuchen, den in keinem anderen Alexanderroman zu findenden Schluss mit einem Giftmord ebenfalls mit zeitgenössischen Ereignissen in Verbindung zu bringen. Das gelingt für die Wirren nach dem Tode König Ludwigs des Großen mit der Ermordung des gekrönten Nachfolgers Karls II. Auf Grund der berichteten Ereignisse müsste der „serbische“ Alexanderroman dann zwischen dem 25. Juli 1386 (Tod der Königsmörder Gorjanski und Forgách, im Roman von Levkaduš und Vrionuš) und dem 14./15. Januar 1387 (Hinrichtung Elisabeth Kotromanićs, die zum Mord angestiftet hatte, während im Roman Minerva straflos bleibt) abgeschlossen worden sein. Adressat des Romans wäre dann vielleicht der in Krieg wie Diplomatie erfolgreiche bosnische Herrscher Tvrtko.

 

11. Aquileia und die Slavenmission

Bisher hat fast das gesamte Forschungsinteresse an den Freisinger Denkmälern dem zweiten (FD II) gegolten, das literarisch am anspruchvollsten ist und nach dem Konsens der Mehrheit der Forscher mit Texten der kyrillomethodianischen Mission, insbesondere der Homilie zum Gedächtnis eines Apostels oder Märtyrers Kliment von Ochrid in Beziehung steht. Der Versuch I. Grafenauers, FD II Paulinus II., dem Patriarchen von Aquileia (787–802), zuzuschreiben, überzeugt nicht, da Paulinus wohl als hervorragender Latinist galt, nicht aber als Kenner des Griechischen, andererseits aber Gregor von Nazianz vonn F. Grivec in FD II als Quelle nachgewiesen worden ist.

Für FD III hingegen könnte eine Autorschaft Paulinus’ erwogen werden, zumal die Rolle Aquileias bei der Slavenmission unstrittig ist. FD III enthält neben einem Beichtformular im Anschluss an eine Absage an den Teufel, die zum Taufgelöbnis gehört, ein sehr knappes Glaubenssymbol. Wenn man dieses gegen I. Grafenauer in der überlieferten Form ernst nimmt, ergibt sich eine auffällige Betonung der Beteiligung der Zweiten Person am Schöpfungswerk, während andere sonst wesentliche Glaubensaussagen fehlen. Nicht einmal der Name Christi, der von Papst Nikolaus I., gestützt auf Acta 19,5, für so wichtig gehalten wurde, dass er allein als Taufformel hinreichen könne, wird genannt.

Ein Glaubenssymbol, das die Trinitätslehre und die Homousie des Sohnes besonders hervorhebt, käme sinnvollerweise bei der Taufe von Häretikern wie den (langobardischen) Arianern zum Einsatz, da diese die Gleichrangigkeit des Sohnes in Frage stellten, nicht aber für die Taufe heidnischer Slaven. So wäre eine Verwendung nach 698, als die Synode von Pavia den langobardischen Arianismus beseitigte, gut vorstellbar.

Der Massenansturm von Slaven zur Taufe nach den Avarensiegen Karls des Großen machte zu einer Zeit, als noch nur zu Ostern und zu Pfingsten getauft werden durfte, eine kurze Taufformel notwendig. (Eine andere Lösung fand Papst Nikolaus I. später für Bulgarien, als er angesichts der großen Zahl von Täuflingen Zugeständnisse bei den Taufterminen machte.) Möglicherweise ist aus solch äußerem Anlass Ende des 8. Jahrhunderts die einst für die Bekehrung der Langobarden geschaffene kurze Formel in Aquileia ins Slavische übersetzt worden. Für einen langobardischen Hintergrund könnte auch die Orthographie sprechen, die bisher als vom Bairischen beeinflusst verstanden worden ist. Das Langobardische kannte nämlich wie das Bairische Medienverschiebung.

Mit der folgenden Beichtformel ist das Glaubensbekenntnis wohl erst später zusammengefügt worden, nachdem auch in althochdeutschen Texten des 10. und 11. Jahrhunderts eine solche Kontamination üblich geworden war.

 

12. Ex Armenia lux

Heute wird allgemein angenommen, dass Konstantinos-Kyrillos der Schöpfer der glagolitischen Schrift sei. Die Schaffung einer neuen Schrift für die Mission war im 9. Jahrhundert unerhört, was Zeitgenossen bestätigen, denn seit Jahrhunderten hatte es keine neuen Liturgiesprachen mit neu geschaffenen Schriften mehr gegeben: das koptische, das gotische oder spätere kyrillische Alphabet sind Adaptationen der griechischen Schrift an das Lautsystem der jeweiligen Sprache. Die Ausnahmestellung teilt das Glagolitische lediglich mit dem Armenischen (und dem Georgischen). In beiden Fällen gilt die Schrifterfindung nicht als Menschenwerk, sondern als göttliche Offenbarung. Die Erfindung in der von der Tradition behaupteten extrem kurzen Zeit von einigen Monaten ist ein weiteres Indiz des Wunderbaren.

Prinzipiell gilt, dass Schriftsysteme, die von anderen Sprachen übernommen werden, die Phoneme der Sprache, für die sie neu verwendet werden, nur unvollkommen wiederzugeben vermögen (z. B. die etruskische Schrift für das Lateinische, die lateinische für das Tschechische). Neuschöpfungen können hingegen das Phonemsystem der Sprache, für die sie gemacht werden, im Prinzip vollkommen wiedergeben. Diese Meinung ist unter Slavisten für das Glagolitische weit verbreitet.

Erstaunlicherweise kann sich aber kaum ein Schrifterfinder von dem freimachen, was er als Vorwissen mitbringt. So ist Sikwayi, der für das Cherokesische eine perfekte Silbenschrift ersann, die Ausnahme, denn er war Analphabet und war somit frei von Interferenzen durch andere Schriftsysteme. Alle anderen Schrifterfinder lassen mehr oder weniger erkennen, in welcher Schriftkultur sie groß geworden sind. Das gilt auch für Mesrop-Maštoc‘, von dem die Armenier glauben, er habe eine vollkommen phonematische Schrift ersonnen.

Es zeigt sich nun, dass die glagolitische Schrift in der ältesten zu erschließenden Form die anzusetzenden slavischen Phoneme unterschiedlich gut bezeichnet. Eine genaue Analyse erweist, dass die glagolitische Schrift für alle Phoneme des Slavischen, die auch im Armenischen vorhanden sind, zufriedenstellende Darstellungsmöglichkeiten gefunden hat, während für Phoneme, die das Slavische kennt, nicht aber das Armenische, solche befriedigenden Lösungen fehlen. Offensichtlich war der Erfinder der glagolitischen Schrift also mit dem Lautsystem des Armenischen vertraut.

Bei der bekannten ablehnenden Haltung der Rhomäer gegenüber „Barbaren“-Sprachen ist aus diesem Befund der Schluss zu ziehen, dass der Erfinder der slavischen glagolitischen Schrift, also Konstantinos-Kyrillos, vielleicht armenischer Herkunft war. Das überrascht kaum, war doch das Herrscherhaus selbst zu seiner Zeit armenisch bestimmt; alle namentlich Bekannten aus Konstantins Umgebung waren zumindest teilweise armenischer Herkunft. So mag es weniger gewagt erscheinen, Konstantinos zuzutrauen, dass er die Sprache seiner armenischen Vorfahren noch sprach.

Auf diesem Hintergrund überrascht auch weniger, dass J. Schröpfer 1964 in der Vita Methodii Anleihen aus der armenischen Literatur (von Faustos von Byzanz) nachweisen konnte. Es ist also nicht nur bei Konstantinos-Kyrillos selbst, sondern auch bei seinem Umfeld, noch mit Kenntnis des Armenischen zu rechnen.

 

13. Konstantin und die hunnische Bibelübersetzung

Die Konstantinsvita berichtet, Konstantinos habe in Cherson (dem heutigen Sevastopoľ) Evangelium und Psalter in „russischen“ Buchstaben gefunden. Nach kontroverser Diskussion hat sich in der Slavistik die 1935 von André Vaillant vorgetragene These, die Lesung руськыми beruhe auf einer Verschreibung für сурьскыми ‘syrischen’ fast völlig durchgesetzt.

Dabei ist aber der Kontext dieser Szene nicht hinreichend gewürdigt worden: der Vita zufolge studiert Konstantinos in Cherson Hebräisch, eine Sprache, die ihm am Hofe der Chazaren, wohin er unterwegs ist, von Nutzen wird sein können. Darauf folgt als erstes Sprachwunder seine Fähigkeit, samaritanische Texte nach nur kurzem Gebet zu lesen. Das Lesen syrischer Texte nach hebräischen und samaritanischen wäre schwerlich mehr als Wunder berichtet worden. Die „russischen“ Texte aber versteht Konstantinos auch nur nach Hinzuziehung eines native speakers. Die Vita berichtet ferner, Konstantinos habe einen Informanten benötigt, weil er sich außer Stande sah, zwischen Konsonanten und Vokalen zu unterscheiden. In semitischen Schriften mit ihrer supra- und infralinearen Vokalisation wäre solch ein Unvermögen unvorstellbar. Es muss sich also um eine Schrift mit linearer Vokalisation handeln.

Nimmt man ferner die Italische Legende ernst, die behauptet, Konstantinos habe sich in Cherson aufgehalten, um die Sprache dieses (d.i. des chazarischen) Volkes zu lernen („gratia discendi linguam gentis illius“, so liegt der Schluss nahe, dass das „Russische“ die Sprache der Chazaren gewesen sein könnte. Diese aber war nach dem Zeugnis arabischer Schriftsteller keine andere als die der Bulgaren.

Der Reiseweg Konstantins führt diesen an den Kaukasus, wobei unter dem Kaspischen Tor hier eindeutig der Engpass im südlichen Elbrus-Massiv im Westkaukasus zu verstehen ist. Dort aber saßen damals Schwarzbulgaren, deren heutige Nachfahren die Karatschaier und Balkaren sind. Aus diesem Raum gibt es auch Schriftfunde, die denen der Protobulgaren aus dem Dobrudscha-Raum stark ähneln.

Offensichtlich handelt es sich bei der so genannten „russischen“ Schrift um eine alte bulgarische. Die bulgarische Schriftlichkeit geht auf den Missionsversuch eines Armeniers, Bischof von Arrān (dem heutigen Azerbaidschan) zurück, dessen syrisch überlieferter Name Qarduṣat, auf Griechisch Theokletos lautete. Dieser soll Zacharias Rhetor zufolge 24 Jahre nach der Gefangennahme und Hinwegführung von syrischen Christen nach der Einnahme von Amida (heute Diyarbakır) durch die Perser den Verschlepptem über die Berge in das Gebiet der „Hunnen“ nördlich des Kura/Mtkvari gefolgt sein; manche habe er bekehrt, Schüler gewonnen, und nach sieben Jahren des Wirkens sei es ihm mit seinen Schülern gelungen, die Bibel in die Sprache der „Hunnen“ zu übersetzen.

Unter „Hunnen“ sind bei Zacharias Sabiren zu verstehen, was offenbar ein anderer Name für die Schwarzbulgaren ist. Das nach arabischen Quellen blühende Christentum nördlich des Kaukasus fand erst mit der chazarischen Eroberung des Raumes in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts ein Ende.

Für die Verwendung des „Russen“-Namens für die Schwarzbulgaren im Nordkaukasusraum lassen sich persische Quellen anführen. Der Name selbst ist dabei von dem der nordischen Rus’ zu trennen. Ibn Rustahs دهساس d.hsās sind schon früher als رهساس ruhsās ‘Weiß-Jassen’ gedeutet worden. Wir wissen, dass   bei den Jassen (Alanen) die Königsfamilie bulgarischstämmig war, und dass Kaukasusbulgaren sich selbst als Alanen bezeichneten. Es wäre also das Vorderglied des Kompositums ruhs-ās, das sich in der Bezeichnung der bulgarischen Schrift als „russisch“ wiederfindet. Konstantinos hätte mithin in Cherson Evangelium und Psalter in (proto-)bulgarischer Sprache vorgefunden, was seine Ratlosigkeit angesichts des Fundes erklärt.


14. Zur Rekonstruktion des slavischen Synaxarions

Die Slavistik hat sich bisher mit den ältesten slavischen Denkmälern kaum unter liturgiewissenschaftlichem Aspekt beschäftigt, obwohl das Problem wiederholt gesehen worden ist, so für den Apostolos von Enina bei Emilie Bláhová, Joseph Schütz und Olga Nedeljković. Der Apostolos von Enina enthält nun ein Kalendarium, das sich von dem konstantinopolitanischen, wie es sich spätestens bis 750 herausgebildet haben soll, unterscheidet, während andere slavische Texte wie die Jagić-Menäen ihm durchaus folgen.

Die „Fehler“ des Apostolos von Enina stehen aber nicht allein, sie haben ihre Entsprechungen im Ochrider Apostolos, im Ostromir-Evangelion und sogar noch im Bdinski zbornik. Sucht man nach der griechischen Vorlage für den slavischen Heiligenkalender dieser Texte, so kommt man auf die Handschriften P (Patmos 226, 10. Jahrhundert) und H (Jerusalem 40, 10.–11. Jahrhundert).

Bisherige Versuche der Datierung der Vorlagen der griechischen Handschriften führen in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts. Gegenüber dem Zustand von P erweist sich der des Apostolos von Enina als archaischer, weshalb seine Vorlage wegen des Fehlens des Michaelsfestes vom 6. September vor 867 datiert werden kann, andererseits wegen der Nennung von Märtyrern des Ikonoklasmus erst nach 843.

Erstaunlich ist die Nennung des heiligen Märtyrers und Bischofs von Jerusalem, Symeon, am 21. September. Wegen des Festes der Kreuzerhöhung am 14. September wurde das Märtyrerfest entweder auf einen Tag früher (13. September im Apostolos von Enina) oder auf 4 Tage später (18. September in H) oder auf den folgenden Sonntag (also zwischen dem 15. und 21. September) verlegt. Die entsprechende typikale Anweisung war am 14. oder 15. September anzubringen (am 15. im Ochrider Apostolos), keineswegs aber, wie im Apostolos von Enina, am letzten möglichen Termin.

So ergibt sich der Verdacht, dass der Apostolos von Enina sich auf ein konkretes Jahr bezieht, in dem der 21. September ein Sonntag war. Zwischen 843 und 867 kommen dafür nur die Jahre 844, 850, 861 und 867 in Frage. Könnte also das Kalendarium des Apostolos von Enina als Vorlage den konkreten Kalender von 861/62 gehabt haben, den die Slavenlehrer bei ihrer Reise zu den Moravljanen mitgeführt hätten?


15. Der kyrillomethodianische Festkalender nach dem Zeugnis der Prager Fragmente

Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Nachricht des Theophylaktos von Ochrid, die Übersetzung jenes Teils des Triodions, den wir heute als Pentekostarion bezeichnen, sei erst kurz vor 916 durch Kliment von Ochrid vollendet worden. Es stellt sich die Frage, was für hymnographische Texte dann davor, also in kyrillomethodianischer Zeit, bei den Slaven in Gebrauch gewesen sein könnten. Spuren von Älterem findet man an der Peripherie, die nicht den in der Slavia Orthodoxa wiederholt durchgeführten Revisionen bis hin zu einer völligen Harmonisierung mit den griechischen Vorbildern unterlegen ist.

Dazu gehören auch die Prager Fragmente, zwei Blätter sehr schlechten Erhaltungszustandes, die 1855 von K. A. C. Höfler auf der Innenseite des lateinischen Codex A. LX, eines Praxapostolus, den Höfler Herzog Spytihněv zuschrieb, in der Bibliothek des Metropolitankapitels zu Prag entdeckt und 1857 von P. J. Šafařík unter Beifügung von Facsimiles und einiger griechischer und slavischer Entsprechungen in glagolitischer Original- und lateinischer und kyrillischer Umschrift herausgegeben wurden. Alle nachfolgenden Editionen beruhen auf der Šafaříks. Die beiden Blätter stammen von verschiedenen Händen, wobei fol. 1 das ein Palimpsest ist, später beschrieben worden ist; möglicherweise stammt die untere Schrift von derselben Hand wie fol. 2.

Inhaltlich handelt es sich um liturgische Texte der Ostkirche, und zwar auf fol. 2 um Antiphona und ein Kathisma sowie Makarismen, wobei bis auf einen Gesang alle bis heute im orthodoxen Passionsgottesdienst gebräuchlich sind. Problematischer sind die Photagogika (Exaposteilaria) auf fol. 1, die noch dazu in ganz ungewöhnlicher Reihenfolge stehen. Auf das erste, das zu fragmentarisch erhalten ist, um eingeordnet werden zu können, folgen Photagogika für Mittpfingsten, Christi Verklärung, das Fest aller Heiligen, den Sonntag des Blindgeborenen, Christi Himmelfahrt, Pfingsten, die Geburt Johannes’ des Täufers, die Apostel Petrus und Paulus sowie die Entschlafung der Gottesgebärerin. Nach der heutigen Ordnung erwartet man, dass die Photagogika entsprechend ihrem jeweiligen Festinhalt im Pentekostarion oder in den Menaia stehen. Die Vorlage könnte freilich immer noch ein Tropologion sein, also jenes Hymnarion, aus dem Triodion, Pentekostarion, die Menaia und die Oktoechoi hervorgegangen sind.

Dennoch bleibt hier die Einordnung von Christi Verklärung und Allerheiligen zwischen Mittpfingsten und dem Sonntag des Blindgeborenen erklärungsbedürftig. Es lässt sich aber zeigen, dass die heute an dieser Stelle stehenden Sonntage der Samariterin und der heiligen 318 Väter eine Neuerung sind: der Sonntag der Samariterin verdankt seine Existenz einer Entfaltung aus der Lesung zu Mittpfingsten, und das Gedenken der heiligen 318 Väter beanspruchte in älterer Zeit noch keinen von Ostern abhängigen Termin. Andererseits gibt es Beziehungen, die das Fest der Verklärung Christi mit Ostern verknüpfen, was die Einordnung in den Osterzyklus rechtfertigt. Das Fest aller Heiligen schließlich findet wie jedes Totengedenken seinen natürlichen liturgischen Platz im Abendgottesdienst des Samstags, hier offensichtlich am Vorabend des Sonntags des Blindgeborenen.

Die Prager Fragmente werden aus sprachlichen Gründen mit dem westslavischen Raum verbunden, wobei sich in der Slavistik die Verknüpfung mit dem Kloster Sázava unweit Prags fast völlig durchgesetzt hat. Wegen des ostkirchlichen Charakters der Texte hat man bisher meist eine russische Vorlage angenommen, was aber chronologische Schwierigkeiten bereitet und linguistisch kaum, paläographisch mittlerweile gar nicht mehr gestützt werden kann. Der tschechischen Prokop-Legende folgend, die den Heiligen in Visegrád das Kirchenslavische studieren lässt, wird man daher die Vorlage für die Texte der Prager Fragmente eher in Ungarn suchen, wobei Visegrád aus chronologischen Gründen freilich nicht in Frage kommt, wohl aber Marosvár (das heutige Cenad in Rumänien), Oroszlámos (das heutige Aranđelovo in Serbien) oder – näher liegend – das Kloster Veszprém, in dem slavische Mönche Anfang des 11. Jahrhunderts bezeugt sind. Das ungarländische slavische Christentum aber ist, wie die älteste Schichte der magyarischen christlichen Terminologie zeigt, das von der kyrillomethodianischen Mission erfasste.


16. Vor- und Frühgeschichte der slavischen Hymnographie

Vieles verdankt der christliche Gottesdienst dem jüdischen Vorbild; die Hymnographie, die bereits im Neuen Testament ihren Anfang nimmt, unterscheidet ihn aber von Anfang an, ja die jüdische synagogale Poesie entsteht erst unter christlichem Einfluss. Der Gesang hat dabei neben panegyrischer vor allem exegetische und dogmatische Funktion, weshalb die frühen Dichtungen ebenso wie typikale Anweisungen in den Lektionarien gesammelt wurden. Solche erweiterten Lektionarien wurden auch als Kanonaria bezeichnet.

Das Anwachsen des nichtbiblischen Materials führte im 5. bis 6. Jahrhundert zur Ausgliederung des typikalen Materials in die später Typikon bzw. Synaxarion genannten Bücher, während das hymnographische Material in ein Hymnarion ausgegliedert wurde, für das im griechischen Sprachraum seit dem 9. Jahrhundert der Name Tropologion bekannt ist. Vor allem studitische Mönche des 8. und 9. Jahrhunderts bereicherten das Tropologion um neue Gesänge, bis schließlich alle Tage des Kirchentages besetzt waren.

Keine Kirche bewahrt bis heute Tropologia. Der Musikologe Heinrich Husmann hat an Hand von griechischen Sinai-Handschriften jedoch den Nachweis geführt, dass jene hymnographischen Bücher, die wir heute als Menaia, Triodia, Oktoechos und Parakletike bezeichnen, alle auch als Tropologion bezeichnet werden konnten; es handelt sich um Teilsammlungen, die aus dem Tropologion ausgegliedert wurden, nämlich in ein Monatshymnarion (Tropologion menaion) für den Jahreskreis, ein Dreiodenhymnarion (Tropologion triodion) für den den Osterfestkreis usw. Daneben entstanden Sängerhandbücher, die Hymnen jeweils einer Gattung enthielten: Sticheraria für Stichera, Kontakaria für Kontakia oder Makarismataria für Makarismoi. Mit der Übernahme des studitischen Typikons auch für den Gemeindegottesdienst setzten sich die neuen hymnographischen Bücher allgemein durch.

Handschriften lassen sich als Tropologia bestimmen, wenn sie Hymnen heute unterschiedener Sammlungen und verschiedener Gattungen in einer Handschrift miteinander vereinigen. Dazu gehört das georgische იადგარი  Iadgari, dem zuerst Ḳ. Ḳeḳelidze 1908 seine Aufmerksamkeit schenkte. Bekannter ist es durch Arbeiten von Elene Meṭreveli geworden, die 1980 eine kritische Edition des Denkmals vorlegte. Die Iadgari-Edition zog zahlreiche weitere Untersuchungen nach sich. Charles Renoux verglich das armenische Hymnarion Շարակնոց Šaraknoc‛ mit dem Iadgari, Jørgen Raasted fand Spuren des griechischen Tropologions in Hagiopolites-Handschriften aus Kalabrien und Christian Hannick erwog auch für die slavischen Prager glagolitischen Blätter die Herkunft aus einem Tropologion, während M. A. Momina hier eher an den Überrest eines Kontakarions oder Sticherarions denkt.

Hier nun wird der Versuch unternommen, nachzuweisen, dass die Handschrift RGADA, f. 381, (Sin. tip.), № 131, die bisher als Festtagsmenaion bestimmt wurde, Überrest eines Tropologions ist. Den entscheidenden Hinweis darauf liefert auf fol. 125v die Rubrik, die nach dem Fest der Darstellung Jesu im Tempel (2. Februar) auf den 1. Fastensamstag verweist; Gedenken der Menaia sind also mit solchen des Triodions verbunden, und zwar an genau der Stelle, an der der Übergang auch im Iadgari geschieht, nämlich dem frühest möglichen Termin für den Beginn der Tessarakoste. Das Fehlen der Vorfastenzeit gibt einen Anhaltspunkt für die Datierung der Vorlage (vor 985, vielleicht sogar vor 878), während die Handschrift wegen der Nennung des Festes des heiligen Georg am 26. November, dem Patronatsfest der Kiewer Georgskirche, zwischen 1051 und etwa 1065 zu setzen ist, also rund ein halbes Jahrhundert vor den ersten erhaltenen vollständigen Sammlungen in der Rus’. Diese stehen, wie sich sprachlich zeigen lässt, in einer anderen Übersetzungstradition, die im Falle der Menaia auch originär ostslavisch sein könnte.

Neben den vollständigen bestand weiterhin Bedarf an kurzen hymnographischen Sammlungen, so dass seit demselben 12. Jahrhundert, aus dem die ältesten vollständigen Sammlungen erhalten sind, auch Auswahlsammlungen hergestellt wurden, die bis heute Verbreitung finden. Diese Anthologien trugen in der Rus’ anfangs und noch bis in das 16. Jahrhundert den Tropologion-Namen in der slavisierten Form трефолой.