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Kindheit und Jugend

In meiner Kindheit gab es für uns so etwas wie Reisen im eigentlichen Sinne noch nicht. Der Jahresurlaub meines Vaters wurde genutzt, um die Familie zu besuchen: leichter die meiner Mutter in Bremen, schwieriger und mit viel Papierkrieg verbunden, die meines Vaters in Kahren bei Cottbus. In beiden Fällen stellten diese Reisen dennoch Erweiterungen des Erlebens und Abenteuer dar. 

Für das Kind war es schon etwas Besonderes, dass die Straßenbahnen in Bremen gelb mit einem roten statt einem grünen Streifen wie in Düsseldorf waren oder dass die Fenster der Wohnungen nach außen statt nach innen öffneten. Viele Geräusche sind in meiner Erinnerung geblieben: jenes, dass die seltenen Autos auf dem Kopfsteinpflaster unserer Straße, der Kantstraße in der Bremer Neustadt, machten, das Quietschen der Straßenbahn, wenn sie an der nächsten Straßenecke abbog, der Ruf „Lumpen, old Isen“ des Lumpenhändlers, wenn er mit dem Pferdewagen über das Kopfsteinpflaster rumpelte. Dazu die Gerüche frischer Kaneelbrötchen, die ich gerne mit Salzbutter aß, der Duft frisch aufgebrühten Kaffees, oder freitags, wenn meine Oma mit Granat (Nordseekrabben) nach Hause kam, die zu „puhlen“ ich helfen durfte. Darein mischten sich der Geruch des Gasherdes, trockener Tabakrauch und Feuchtigkeit aus dem steinernen Waschbecken. Nichts davon kannte ich von Zuhause.

Dazu kam das Paradies „Häuschen“. Das war ein Wochendhäuschen in Wasserhorst, gelegen an einem von uns Mückensee genannten Teich. Hier konnte man sich im Dreck suhlen, vor allem aber genoss ich es, wenn Erwachsene uns mitnahmen auf dem schweres hölzernen Ruderboot, mit dem man sich in dem hochgewachsenen Schilf rings um den Teich verbergen konnte. Das Häuschen selbst aus grün gestrichenem Holz mit weißen Streifen, stand auf Stelzen, und darunter war Platz für Küchenabfälle und sicher ein Heim für Ratten. Drinnen gab es einen Wohnraum mit alten Gartenmöbeln, obwohl wir, wenn immer es ging, draußen aßen, daneben die Küchenecke, die als Geschirr und Besteck alles beherbergte, was nicht mehr gut genug für die Stadtwohnung, aber doch noch brauchbar war. Im hinteren Teil gab es Etagenbetten, wo man herrlich auf Stroh schlafen konnte.

Später musste das Häuschen der Erweiterung des Wasserhorster Friedhofs weichen, fand aber einen neuen Stellplatz auf dem Gelände eines Bauernhofs hinter dem Deich an der Lesum. Hier gab es keine zahllosen Mücken mehr, dafür Bremsen wegen der sich unmittelbar anschließenden Kuhweide. Ein Wäldchen in der Nähe lud zu Abenteuerspielen ein, am Ufer der Lesum konnte man stundenlang träumen, oder ich lauschte dem Mundharmonikaspiel meiner Tante, die, da nur zehn Jahre älter als ich, über die Jahrzehnte eher zu einer Freundin wurde. Freude machte es mir auch, über den Deich zum nächsten Bauernhof zu gehen, wo man Milch bekommen konnte, und ich freute mich, wenn sie noch warm von der Kuh war. 

Andere Freuden ergaben sich, wenn wir zur Familie meines Vaters fuhren. Anfangs war das eine endlos lange Eisenbahnfahrt, die zunächst in Leipzig endete, wo wir viele Stunden warten mussten, bis es einen Anschlusszug nach Cottbus gab. Die Wartezeit verbrachten wir dann zur Freude für uns Kinder mehrfach im Leipziger Zoo. Von Cottbus nach Kahren gab es wohl einen Bus, aber ich erinnere mich besonders gerne eines Mals, als wir mit einem Pferdegespann vom Bahnhof abgeholt wurde. Das war wohl ein Nachbar, denn meine Familie besaß keine Pferde. Es gab nur Hühner, Kaninchen und zwei Ziegen, wobei wir als Kinder vor allem unsere Freude an den Kaninchen hatten. Vor dem Krieg hatte es auch mal ein Auto gegeben, aber zu meiner Zeit diente die Garage nur dazu, die Fahrräder aufzunehmen und vor allem Kisten mit Malzbier und riesige Bleche mit Kuchen. Wann immer man Lust hatte, konnte man sich in der Garage mit Kuchen und Malzbier vergnügen. Nachdem mein Vater 1959 einen gebrauchten Volkswagen gekauft hatte, wurde der Weg leichter und führte dann in der Regel über Apolda, wo wir (nach den Visabestimmungen unzulässig) bei einer Bekannten meines Vaters dann eine Kaffeepause einlegten.

Radfahren lernte ich in Kahren. Das Rad war mir viel zu groß, so dass ich auf einen Stein steigen musste, um hinaufzugelangen, und wenn ich absteigen wollte, musste ich mich einfach zur Seite fallen lassen. Das Fahren war nicht ganz einfach, die Wege bestanden nur aus oft tiefem Sand. Allerdings gab es ein Stück weiter herrliche Kiefernwälder und ein Stück nie fertiggestellte Reichsautobahn, auf der es bequem war zu fahren. Eine weitere Tante, die Witwe des in Belgien gefallenen älteren Bruders meines Vaters, wohnte am anderen Ende des Dorfes, und zu ihr kam man am bequemsten, indem man, statt der Dorfstraße zu folgen, quer durch den Sumpf ging. Diese Tante besaß auch Kühe und einen immer angeketteten Hofhund, der zwar angeblich bissig war, mit dem ich mich aber gut verstand und mit ihm, die Kette in der Hand haltend, rings um den Hof lief. Auch gab es für mich in Kahren kulinarische Höhepunkte (neben dem Kuchen): so liebte ich die Brötchen aus dunklem Mehl, die mir viel besser schmeckten aus jene aus weißem Mehl, die allein es im Westen gab (Vollkornmehl und Bioprodukte waren noch unbekannt), und die etwas sandig statt sahnig schmeckende Schokolade. 

Bei Besuchsreisen in der DDR musste für jeden Tag eine bestimmte Summe Westmark in Ostmark umgetauscht werden (Pflichtumtausch), wobei das Ostgeld bei Verwandtenbesuchen eigentlich gar nicht benötigt wurde. Ausgegeben wurde es unter anderem für Bücher, und so wuchs ich teilweise mit Literatur für Kinder und Jugendliche aus der DDR auf und rezipierte auf diesem Wege manche Idee. So wäre ich ja so gerne wie meine Helden im Buch Junger Pionier geworden, und in den Indianerbüchern, die ich gerne las (besonders erinnere ich mich an Blauvogel), galt die Sympathie immer den Indianern, nie den weißen Eroberern. Liebend gerne wäre ich wie meine Freunde und Verwandten zur Jugendweihe gegangen, das aber vor allem wegen eines Buches unter dem Titel Weltall, Erde, Mensch, das naturwissenschaftliches Wissen darbot und das man zu diesem Anlass geschenkt erhielt. Neben naturwissenschaftlichem Wissens enthielt es auch eine Grundlegung des dialektischen und historischen Materialismus. Durch Beziehungen meines Onkels, eines Malermeisters, bekam ich das Buch schließlich auch vom Bürgermeister überreicht, allerdings nicht in einem feierlichen Rahmen, sondern zuhause in der Guten Stube. Das Buch habe ich jedenfalls verschlungen.

Allerdings musste ich mich zuhause hüten, etwas Falsches zu sagen. Ich erinnere mich, dass ein Schüler einer anderen Schule während der obligatorischen zentralen Feierstunde zum 17. Juni bei einer Podiumsdiskussion davon sprach, dass die Politiker verschiedener Couleur doch seien wie dieselbe Zahnpasta in verschiedenen Tuben; diese Meinung musste er dann allerdings mit dem Verweis von der Lehranstalt büßen. Auch ich bekam einmal Probleme, als ich mit Bezug auf die DDR von „Ostdeutschland“ sprach statt von „Mitteldeutschland“ oder besser „SBZ“ (Sowjetisch besetzte Zone). Das hatte jedenfalls eine Verwarnung zur Folge. Keinesfalls hätte ich erwähnen dürfen, dass ich einmal, da war ich bereits in der Oberstufe des Gymnasiums, zwei Tage lang an einer Cottbuser Oberschule hospitiert habe, weil ich mich für den Schulunterricht in der DDR interessierte. Viel Wissenswertes bekam ich dabei allerdings nicht mit, weil mit Rücksicht auf mich der Stundenplan geändert wurde. Dem Russischunterricht konnte ich gut folgen, im Englischunterricht erstaunte mich die Lektüre: nicht Shakespeare, wie bei uns im Westen, stand auf dem Lehrplan, sondern ein Zeitungsbericht über Arbeiterelend in England. Ansonsten gab es Sport und Kunst, also wenig Verfängliches. Folge dieser zwei Tage war eine langjährige Brieffreundschaft mit einem Mädchen, in dem es hauptsächlich um Literatur und Politik ging. Die Briefe waren hochinteressant, aber oft schwierig zu beantworten, so dass ich manchmal meinen Vater um Rat fragen musste. Das ging meiner Freundin aber ebenso, so dass da bei politischen Themen teilweise, ohne dass wir es damals wussten, unsere Väter miteinander korrespondierten (ihr Vater war ein hohes Tier in der SED). 

Berührungsängste mit dem System in der DDR kannten wir nicht. Den Mauerbau vom 13. August 1961 erlebten wir in der DDR, und niemals war die Grenzabfertigung auf der Rückreise so unproblematisch, während im Westen die Beamten hektisch und nervös waren. Später war ich sogar einmal illegal in der DDR unterwegs. Unser Visum galt 1973 nur für den Bezirk Cottbus, ich aber wollte nach Berlin, wo mein Cousin damals bereits studierte. Da in Berlin ein Weltjugendtreffen stattfand und also viele Menschen unterwegs waren, wagte ich es, ohne Visum nach Berlin zu fahren und mir das Treffen anzusehen; außerdem fuhr ich in Begleitung der Freundin meines Cousins sogar noch nach Potsdam, das mir ausnehmend gut gefiel. 

Mit der Anschaffung eines gebrauchten Volkswagens hatte für uns 1959 die eigentliche Erfahrung des Reisens begonnen. Die ersten führten uns quer durch Westdeutschland, und zwar nach einer Methode, die wir „Zigeunern“ nannten: Wir fuhren ohne Ziel los, und wenn es Abend wurde, suchten wir uns für die Nacht eine Unterkunft in einem Gasthaus. In aller Regel war das unproblematisch, nur einmal blieb die Suche vergebens, so dass wir an einem Feldweg im (Mutter und Schwester) bzw. neben dem Auto (mein Vater und ich) auf dem Feldrain nächtigten und am nächsten Morgen in einem nahen Wäldchen einen Bach fanden, wo wir uns waschen konnten. Viele hübsche Orte lernten wir so kennen, vor allem an Dinkelsbühl, Rothenburg ob der Tauber und Ingolstadt erinnere ich mich, auch an den Rheinfall von Schaffhausen. Wir waren eine fröhliche Gesellschaft und sangen unterwegs. Auf einsamen Strecken durch den Schwarzwald, wo kaum mal ein Auto fuhr, beschrieb mein Vater aus lauter Übermut und Lebensfreude Schlangenlinien auf der Straße, heute schwerlich mehr vorstellbar.   

1961 unternahmen wir unsere erste „Auslands“reise nach Österreich. Wir Kinder waren begierig zu erfahren, wodurch Ausland sich von Inland unterscheiden würde; außer dem Dialekt, an den wir uns aber schnell gewöhnten, war das der gelbe statt des weißen Mittelstreifens auf den Straßen. 1961 machten wir zigeunernd eine Rundreise durch Österreich, die uns bis Wien und Wiener Neustadt führte (wo ich, in Unterschätzung der Entfernung und Unkenntnis des Grenzverlaufs durch den flachen Neusiedler See zum gegenüberliegenden Ufer waten wollte, das schon ungarisch war, und von der Grenzpolizei im Boot eingeholt wurde), anschließend blieben wir eine Zeit in Dorfgastein. Mein Vater hatte nach seiner Kriegsverwundung Bad Gastein kennengelernt, wo er im Lazarett war, daher die Wahl des Ortes, wobei Dorfgastein finanziell erschwinglicher war als das teure Bad Gastein. Mit den Wirtsleuten, die Kinder im passenden Alter hatten, verstanden wir uns sehr gut, so dass wir jedes Jahr wieder nach Dorfgastein fuhren und dort durchschnittlich jeden zweiten Tag eine Bergtour unternahmen. Herrlich war es auch, als wir einmal abends aufstiegen und in einem Heustadl übernachteten, um früh morgens die Gemsen beobachten zu können. Im Dorf wurden wir bereits im zweiten Jahr als Einheimische betrachtet und zahlten auf dem Minigolfplatz den entsprechenden Preis statt den für „Ausheimische“. Mit der Wirtsfrau, die ihr Tal noch nie verlassen hatte, unternahmen wir auch Ausflüge, einmal sogar bis München, wo die arme Frau sich angesichts des Verkehrs zu Tode ängstigte, aber auch nach Innsbruck.

Nach München (ins Deutsche Museum) führte 1965 die Klassenfahrt, meine erste Reise ohne Eltern, dann 1966 nach England (London, Salisbury, Oxford, Coventry, Stratford-upon-Avon und Cambridge). In London lernte ich eine Italienerin kennen, die ich bei einem Spaziergang am Sonntagmorgen im Park angesprochen hatte. Sie schaute mich kurz an, meinte “I think you are a good boy”, und fragte mich dann, für wie alt ich sie halte. Ich schätzte sie auf 18, womit sie zufrieden war, denn es hatte sie, die schon 20 war, empört, dass eine Verwandte sie für 16 gehalten hatte. Sie studierte bereits Jura und wurde mir dadurch, dass sie mir überlegen war, Ansporn, meine schulischen Leistungen zu verbessern, daneben, mich eingehender mit dem Italienischen zu beschäftigen, für das ich mich durch einen ganzen Stapel italienischer Schullektüren aus der Schweiz las, Klassiker bis hin zu Dante. Für praktische Zwecke hatte ich einen Sprachführer, der noch aus dem faschistischen Italien stammte. Zur Anwendung der Sprache kam ich 1967, als wir von Dorfgastein aus einen Abstecher nach Italien unternahmen, um in Treviso Teresita und ihre Familie zu besuchen. Meine Freundin  begleitete uns auch auf einen Abstecher nach Asolo, Jesolo und Venedig. Überraschend für uns war freilich, dass wir am ersten Abend zu einer Zeit, wo wir daran gewöhnt waren schlafen zu gehen, zusammen in die nahegelegenen Berge fuhren zu einem Weinfest, und dass dort noch lange nach Mitternacht auch kleine Kinder wach waren, tanzten und spielten. Im Folgejahr unternahm ich nach dem Abitur meine erste Reise allein, die mich nach Bulgarien führen sollte.