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Nicolina stellt sich vor

Eigentlich war Nicolina immer schon da. Schon in meiner frühen Kindheit wusste ich, dass ich eigentlich ein Mädchen war. Ich erinnere mich an einen Traum, in dem ich von Indianerinnen an einen Marterpfahl gebunden worden war, von dem ich nur wieder frei kommen konnte, wenn ich bereit war, als Mädchen zu leben. Das habe ich immer gewollt, aber das familiäre und schulische Umfeld, das davon nichts ahnte oder es nicht wahrhaben wollte, versuchte, mich maskulin zu prägen. Ich sollte ein Kavalier sein, ritterlich gegenüber dem weiblichen Geschlecht, aber doch eine Junge. Andererseits reizten mich Jungenaktivitäten nie, habe ich nie gelernt, Fußball zu spielen, dafür aber mit Teddybären, Puppenstube und Kaufladen. Wohl unbewusst vermittelte mir meine Mutter, wie ich mich zu halten habe, wie zu gehen, wie zu sitzen usw.; heute weiß ich, dass das alles weibliche Verhaltensweisen waren, die sie mir zu­sammen mit Misstrauen gegenüber dem männlichen Geschlecht und dem Bewusstsein von der Überlegenheit der Frauen vermittelte. Mehr als einmal hörte ich, dass ich dies oder jenes nicht verstehen könne, weil ich keine Frau sei.

Nachdem ich im Studium mehr Freiheit genoss, habe ich häufiger als während der Schulzeit zu weiblichen Kleidungsstücken gegriffen und mich darin wohler, sicherer, authentischer gefühlt. Auf das Hochgefühl folgte dann aber immer wieder ein Gefühl der Scham, die Über­zeu­gung, etwas Unrechtes, Abartiges zu tun. Immer wieder habe ich alle weiblichen Kleidungsstücke weggeworfen und mir geschworen, dass damit Schluss sein müsse, habe mir einen Bart stehen lassen, um im Spiegel kein befriedigendes weibliches Bild abgeben zu können, habe mich dem strengen Sittenkodex der orthodoxen Kirche unterworfen, aber alles umsonst. Meine weibliche Seite drängte immer wieder und stärker vor. Auf die jahr­zehn­telange Unterdrückung meines Selbst habe ich schließlich mit Krankheit reagiert. 2009 war es dann so weit, dass Nicolina sich nicht länger unterdrücken ließ, sie wollte heraus und endlich leben. Inzwischen weiß ich auch, dass meine Veranlagung keine Krankheit ist und daher auch nicht geheilt werden kann, es ist einfach eine Normvariante, die ca. 0,5 bis 1% der Bevölkerung betrifft. Ich kann mein Frausein also nur akzeptieren oder unglücklich sein.

Meine Frau hat zunächst erstaunlich verständnisvoll reagiert, dann aber doch negativer, als sie merkte, dass es nicht nur ein vorübergehender Spleen war. Inzwischen hat sie sich damit abgefunden und unterstützt mich. Die engste Familie lehnt Nicolina völlig ab, aber im weiteren Familienkreis und unter Freunden finde ich überwiegend Verständnis und Toleranz, zahlreiche Bekannte und auch Unbekannte, die auf meine Homepage stießen, haben mich angeschrieben und mir zu meinem Schritt gratuliert. Auch habe ich im persönlichen Kontakt inzwischen die Erfahrung gesammelt, dass die meisten Mitmenschen gar nicht, teils aber sogar positiv auf mich reagieren, wenn ich ihnen als Nicolina gegenübertrete. Erfreut konnte ich feststellen, dass die Gesellschaft zumindest in Mitteleuropa toleranter ist als man ihr manchmal zutrauen würde. 

Zunächst hatte ich freilich geglaubt, dass zumindest im beruflichen Raum und in meinen Publikationen ich weiterhin als Nikolaos würde auftreten müssen, hatte doch sogar der Wechsel von Hartmut zu Nikolaos dazu geführt, dass im Internet die Ansicht geäußert worden war, es handele sich hier um zwei Autoren, die am Kirchenslavischlehrbuch gemeinsam gearbeitet hätten. Eine dritte Autorin meinte ich meiner Leserschaft daher nicht zumuten zu dürfen. Mit dem Wechsel in das Neue Jahr 2013, das mir das Ende des Berufs­lebens bescheren sollte, habe ich dann aber doch beschlossen, das bisher nur in einem engeren Zirkel er­folgte Outing zu einem allgemeinen auszuweiten und meine Homepage unter meinem weiblichen Namen, mit dem ich mich besser identifizieren kann, weiterzuführen. Bald darauf erhielt ich erste Zuschriften, die sich auf meine Publikationen bezogen, adressiert an Nicolina, dann sogar die Einladung zu einem Gastvortrag in Berlin am 27. Juni 2013. Dies nahm ich zum Anlass, nun doch vollständig, und nicht nur in der Freizeit, offen als Frau zu leben. Die im Februar 2014 erschienene Neubearbeitung meines Kirchenslavischlehrbuchs, Band II, war die erste Publikation unter meinem weiblichen Namen; weitere folgten.  

2016 beschloss ich dann, mein gefühltes Geschlecht auch mit dem amtlichen in Einklang zu bringen, und durch Beschluss des Amtsgerichts Köln wurde mir rückwirkend seit dem 26. Oktober 2016 bescheinigt, dass ich eine Frau bin. Eine gültige Geburtsurkunde sowie einen neuen Personalausweis und Reisepass auf den neuen Namen und Personenstand halte ich seit Januar 2017 in den Händen.